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Alles im grünen Bereich

Das Beste in uns
Unter Laborbedingungen zeigt sich, was in uns steckt

"Dieses unfreiwillige Experiment zeigt mir, dass ich acht Stunden Schlaf pro Nacht benötige," sagt mein Mann heute Morgen beim Frühstück. Stimmt. Da wir nun beide im Homeoffice arbeiten, müssen wir nicht wie sonst um 6 Uhr aufstehen. Vielmehr schlafen wir jeden Tag aus und sind trotzdem effektiver, wacher und klarer beim Start in den Tag. Welch Kontrastprogramm! Einerseits haben wir es hier mit einer Pandemie zu tun, mit einem Lockdown, mit Ängsten, Unsicherheit und einem psychosozialen Experiment bisher unbekannten Ausmaßes.

 

Andererseits sind wir zufrieden. Kann das sein? Darf das überhaupt sein? Warum eigentlich nicht? Wir hatten jetzt eine angemessen Zeit, uns an die neuen Umstände zu gewöhnen. Wir stellen fest, dass wir es wirklich, wirklich gut haben - wir sind gesund, wir haben beide Arbeit und wir müssen kein Homeschooling mit Kindern betreiben. Wir haben ein Haus mit Garten, dürfen hinaus in die Aussenwelt (zum Einkaufen ist es etwas stressig, aber man gewöhnt sich an alles!) und auch zum Spazierengehen. Da wir ländlich wohnen, können wir jeden Tag über die Feldwege gehen und begegnen natürlich auch Anderen.

 

"Schon wieder Risikogruppen-Slalom!" denke ich laut, als wir - mal wieder - einigen rüstigen Senioren in praktischer Outdoor-Kleidung beim Fahrradfahren oder beim strammen Walken ausweichen müssen. Aber ist es nicht unglaublich anmaßend, so etwas zu denken? Ist es - es gibt schließlich keinerlei Grund für die meisten Senioren, sich im Haus einzuschließen. Die frische Luft und auch der Kontakt, wenn auch nur per Blick, sind sicherlich fördelicher für die Gesundheit als Isolationshaft. Ich habe neulich von einer einsamen alten Dame in Rom gehört, die stundnelang allein Bus gefahren ist und eine saftige Geldstrafe dafür in Kauf genommen hat, weil sie es allein zu Hause nicht mehr ausgehalten hat. Das bricht mir das Herz! Lieber trage ich weiterhin eine Maske und weiche den Menschen gekonnt aus.

 

Ich ziehe eine Zwischenbilanz. Erstaunt stelle ich fest, wie anpassungsfähig der Mensch offensichtlich ist. Ob sich die Online-Kurs-Welle auch nach dem Lockdown halten wird? Ob wir dieses Bewusstsein für Dankbarkeit und Demut auch weiterhin halten können? Wir werden es erleben. Es wird etwas Neues aus uns heraus erblühen.

 

In den vergangenen Wochen bin ich mir selber näher gekommen. Ich konnte herausfiltern, was wirklich wichtig und "dran" ist. Ich habe mir Seiten an mir anschauen dürfen, die im Normal-Alltag eher im Hintergrund geblieben wären, und ich bin sehr froh über diese Begegnung. Alles im Grünen Bereich! Die Blüten, die meine Innerstes hervorbringt, gefallen mir gut - wenn auch Einiges fremd und ungewohnt ist.

 

Aber das ist es doch, was es jetzt braucht: dem noch Unbekannten in uns - und auch ausserhalb unserer Selbst - zunächst einmal unvoreingenommen zu begegnen. Ich freue mich auf die Zeit "nach Corona".

 

(C) Copyright Johanna Wienzek

Blüte am Wegesrand
Wir erblühen in dieser speziellen Zeit - ob wir es wollen oder nicht

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